Der Maulwurfsbock
Sämtliche Vorbereitungen waren getroffen: Literatur verschlungen, Fieplaute einstudiert, Blattstände auserkoren, Ausrüstung bereit gelegt und logischerweise die etwaigen Territorien des Rehwildes skizziert. So war ich seit dem Frühjahr gespannt darauf, was man mit gezielter Vorbereitung auf die Rehbrunft in selbiger erleben kann. Wie vor jeder Episode, die das Weidwerk so mit sich bringt, liefen vor meinem inneren Projektor zahlreiche Szenarien ab, wie die Blattjagd ablaufen könnte. Die Mühen wurden in der ersehnten Zeit mehr als belohnt und anfängliche Vorstellungen verblassten im Angesicht der darauf folgenden Erlebnisse. Eines davon ist so ergreifend, dass es sich allemal lohnt davon zu berichten… Die Blattzeit war in vollem Gange. Die Böcke trieben ihre Angebeteten schon seit einigen Tagen mit zunehmender Vehemenz. In den vergangenen zwei Wochen konnte ich den Beginn der Brunftzeit des Rehwildes beobachten und war fortan Zeuge sämtlicher Bewegungen im Revier. Das Wetter gestaltete sich wechselhaft und die sogenannten Hundstage, welche nun herrschen sollten, blieben ohne wirkliche Hitze. Jedoch hatte die diesjährige Witterung für meine Begriffe und meinen derzeitigen Erfahrungsstand keinen maßgeblichen Einfluss auf den Brunftverlauf, der sich im Wesentlichen wie gewöhnlich von Ende Juli bis zirka Mitte August hinzog. So konnte ich in diesen Tagen viele Stücke Rehwild sowie einiges an anderem Wild bestätigen. Mittels meiner Versuche mit dem Blattinstrument gelang es mir bei nahezu allen meiner Ansitze Rehwild in Anblick zu bekommen. Nachdem ich die fest eingeplanten Blattjagdstände bereits besucht hatte, vertraute ich anschließend meinem jagdlichen Instinkt, der mich immer wieder zu kleineren Abenteuern herausfordert und mich ab und zu dadurch an besonderen Naturschauspielen teilhaben lässt. So war es dann der 8. August, welcher mir ein unvergessliches Erlebnis bescherte. Am besagten Tag zog es mich in einen Revierteil, in dem aufgrund weniger Äsungsmöglichkeiten und mangels adäquater Einstände eher wenig Rehwild steht. Es hatte ab und an geregnet, der Boden war feucht, die Luft nun klar und um die 20 Grad warm. Im Buchenhochwald ließ es sich in sommerlich leichter, der Umgebung angepasster Kleidung gut aushalten. Lediglich mit Drilling, Fernglas und Hocker bewaffnet spazierte ich entspannt einige hundert Meter auf dem breiten Waldweg entlang, war voller Vorfreude auf die kommenden Stunden und nahm mir vor, mich an einer mir zusagenden Stelle niederzulassen. In einer langgezogenen Kurve bekam meine Stimmung aber einen jähen Dämpfer, als ich einen wohl erst kürzlich verendeten Maulwurf am Wegesrand liegen sah. Bevor er dort vom nächsten Fahrzeug unrühmlich zerquetscht worden wäre, fasste ich mir ein Herz, hob ihn auf und verscharrte ihn abseits des Weges im Laub. Nach der „Beerdigung“ ging es weiter bergauf und ich schritt nun in einen viel lichteren Hochwald, der schon fast gänzlich mit Buchennaturverjüngung durchsetzt war. Dort reichen die jungen Triebe bis an den Weg und hüllen den Waldbesucher in einen grünen Tunnel. Es ist dort kaum mehr möglich den Berghang zu meiner Linken oder die Böschung zu meiner Rechten auch nur zehn Meter einsehen zu können. Plötzlich riss mich das Geräusch abspringenden Rehwildes aus meinen Gedanken und bannten mich wieder in meine Eigenschaft als Jäger. Zwischen den kleinen Bäumen, die sich oberhalb von mir befanden, sah ich etwas Rotes vorbeizischen. Dieses zwar als Stück Rehwild erkannt, jedoch ohne Chance auf eine genauere Ansprache verzog sich flugs hangaufwärts und machte nicht weiter auf sich aufmerksam. Die Umgebung schien mir erfolgversprechend und ich grübelte, wo denn dort der beste Platz sei, um einen Rehbock zu blatten. Ich suchte den Berghang ab, ob sich dort, oberhalb der Verjüngung, eine freie Stelle bietet, um mich auf meinem Hocker dort hinzusetzen. Einige Meter musste ich noch gehen, bis mich ein größeres Loch im Blätterdach des Laubwaldes eine Lichtung im Hang erahnen lassen konnte. Also hielt ich inne, prüfte den Wind sorgfältig und konzentrierte mich auf die nun folgende Mischung aus Pirsch und Klettertour. Möglichst geräuschlos kraxelte ich die steile Böschung hinauf, setzte oben angekommen einen Fuß vor den anderen und blickte vorsichtig in alle Richtungen, um ja keinen Waldbewohner zu alarmieren. Dies gelang, und selbst der bunt gefiederte Polizist des Waldes in einem der Äste über mir nahm keine Notiz vom nahenden Räuber auf zwei Beinen. Ich näherte mich so einer kleinen Waldwiese, die vom 50 Meter entfernt unter ihr liegenden Weg nicht einzusehen war. Überrascht von der hier vorgefundenen Idylle und leicht erschöpft aufgrund des kräftezehrenden Aufstiegs setzte ich mich direkt an den Rand der Grasfläche in den Schatten einer Eiche mit Blickrichtung hangaufwärts. Die Wiese hatte in etwa die Maße eines Strafraums beim Fußball und ich saß sozusagen am linken Torpfosten in Richtung Spielfeld. Auf diese grüne Bühne wollte ich Rehwild locken. Gegenüber von mir konnte ich unter den tiefhängenden Ästen der Laubbäume noch etwa 80 Gänge weit schauen, links von mir schloss sich direkt an die Wiese eine Dickung an und am rechten Ende der Fläche versperrten mir umgestürzte Bäume direkte Sicht in den Hochwald. So saß ich dort an der von Buchen und Eichen umsäumten Lichtung und ließ mich und die Umgebung zur Ruhe kommen. Nach einer Weile nahm ich den Blatter an den Mund und schickte die ersten zarten Fieplaute eines Schmalrehs in den Wald. Mit kürzeren und längeren Pausen fing ich ein von sehnsüchtigen Tönen bestimmtes Liebeskonzert an. Durch Rascheln im Laub und dem Wackeln an Ästen imitierte ich munter Bewegungen im Hang. Stetig blickte ich langsam in alle Richtungen, wohlwissend um die Gefahr von hektischen Bewegungen meinerseits. Nebengeräusche wie das Klackern der Hufe von Pferden sowie der Wind der durch die Wipfel strich, mussten auch als solche registriert werden, um nicht doch Wildbewegungen zu verpassen. Die ersten paar Strophen mit dem Nachahmen von Schmalreh und Sprengfiep bei einem etwaigen Brunftreigen mit selbigem Stück blieben ohne Reaktion eines Bockes. So legte ich nach einer halben Stunde das Instrument länger beiseite und bereitete mich auf die nächste Serie vor. Ich wollte nun versuchen, durch den Rickenfiep einen Bock zum Zustehen zu bewegen. So begann ich anfangs wieder zärtlich und dann lauter werdend mit den Locklauten. Nach einer knappen Viertelstunde, ich hatte den Blatter gerade gesenkt, hörte ich links hinter mir ein Rascheln in der Dickung. Dann ging alles ganz schnell. Ein Bock zog zirka 30 Schritt links unterhalb von mir schräg auf mich zu, auf 20 Schritt hatte er bereits meine Höhe erreicht und ich nutzte eine dicke Eiche als Sichtschutz, um den Drilling in Anschlag zu bekommen. Ich erkannte ihn sofort, da er mir schon Tags zuvor im Schlepptau einer Ricke gesprungen war, ich ihn aber früh morgens im Nebel nicht richtig hatte ansprechen können. Nun jedoch sah ich, als er 15 Meter vor mir aus der der Verjüngung trat, dass es sich um einen sicher 4 jährigen Abschussbock handelte. Seine rechte Stange wies eine Gabel auf und die linke war lediglich als schief nach hinten gewachsener Spieß zu identifizieren. Er kam weiterhin näher und verhoffte kurz, halb verdeckt hinter einer Buche am Rand der Waldwiese. Nach wenigen Schritten auf die Lichtung trennten mich und den fahlen Bock keine 10 Gänge mehr. Er verhoffte abermals, suchte nach der Ricke, sicherte und fixierte schließlich mich mit seinen Lichtern. Er äugte mich an, senkte und hob sein Haupt ruckartig, war sich unsicher. Jetzt oder nie, halbschräg von vorne riss die 7x65R den Platzbock von den Läufen, ein kurzes Schlegeln, vorbei. Die kurzfristig angestaute Anspannung und die Ungläubigkeit über das hautnah Erlebte ließen mich zittern und beben. Die Szenerie spielte sich kurzerhand noch etliche Male hintereinander in meinen Gedanken ab, ich musste aufstehen und sah ihn immer noch da liegen, es war tatsächlich so passiert. Das musste die Krönung der diesjährigen Blattzeit sein. Ich barg in der Folge den Bock, schritt mehrmals ungläubig die 8 Gänge dahin ab, versorgte und legte ihn weidgerecht hinter dem Baum vor dem ich saß, ab. Da es noch hell war und die Sonne gerade erst unterging, begann ich schon gleich darauf mit einer neuen Strophe. Ich simulierte weiterhin die Töne einer brunftigen, suchenden Ricke und blickte ab und an zu dem gestreckten Bock. Ungefähr zwanzig Minuten dauerte es, da hörte ich leise und dennoch gut vernehmbar hangaufwärts ein ziehendes Stück Rehwild. Da es im Hochwald bereits dunkel wurde, musste ich das Glas zur Hilfe nehmen. Aus dem Unterholz weit über mir im Hang zog ein Bock rasch auf mich zu und es war am Verhalten schon zu erkennen, dass es sich um einen forschen Möchtegern handeln musste. Die Wehr, die er mir dann kurz über der Wiesenfläche präsentierte, war seinem Verhalten doch gerecht. Ein prachtvolles Sechsergehörn mit absolut gleichmäßiger Vereckung, blank gefegten, nadelspitzen Enden zierte weit über die Lauscher hinausragend sein Haupt. Stolz stakste er mir entgegen, stand mitten auf der Wiese unmittelbar vor mir, wusste aber nichts mit mir anzufangen. Hin und her zog es ihn, im Halbkreis um mich herum, er hatte keinen Wind, er konnte mich schlichtweg nicht eräugen. Gute zehn Minuten, vielleicht länger umkreiste der etwa Dreijährige im Liebeswahn den wohlklingenden Ort. Einen solchen Zukunftsbock hatte ich bis dato nie in Anblick und ich freute mich ungemein, dass es durch das Blatten gelungen war ihn anzulocken. In der Hoffnung, dass er das freigewordene Revier besetzt möge dieser Bock die kommenden Jahre überleben und für starken Nachwuchs sorgen. Als sich sein anfängliches Ungestüm endlich gelegt hatte, entfernte er sich allmählich, immer wieder unterbrochen durch mehrmaliges Verhoffen. Schließlich entschwand er nach rechts meinem Blickfeld und ich wartete noch eine Weile bis ich sicher war, dass er nicht mehr wieder kommen würde. Anschließend packte ich meine Sachen zusammen und zog den Bock hinunter an den Weg. Nach der dann angefallenen Arbeit durfte ich das Geschehen am selbigen Abend noch etliche Male wiedergeben. Das Tottrinken im Kreis der Familie und die frohen Gedanken an diesen zukunftsträchtigen Revierteil rundeten für uns alle diesen herrlichen Blattjagdtag ab.
Tobias Hermann Schädler