NUR EIN SCHWEIN(CHEN) – Wer ist „Wuselchen“?

NUR EIN SCHWEIN(CHEN) – Wer ist „Wuselchen“?

Wuselchen ist sicher eins von vielen tausend Frischlingen, die in diesem Jahr von dem weit größten Teil unserer Bevölkerung unbemerkt in unseren Wäldern das Licht der Welt erblickt haben und normalerweise fürsorglich von den sehr sozial eingestellten Wildschweinmuttis beschützt und betreut werden.

Aber jetzt zur Chronologie:  An einem Samstagabend, ich hatte bereits meine Jagdutensilien geordnet und freute mich mal wieder auf einen seit längerer Zeit vermissten Abendansitz auf Sauen. Da schellte es an der Haustür. Ich höre meine Frau noch rufen, als sie aus dem Fenster sah „nicht schon wieder“!  Da stand ein Jungjäger aus der Nachbarschaft, der vor einigen Wochen erst seine Jägerprüfung bestanden hatte, mit noch 2 anderen jungen Leuten und hielt einen ca. 14 Tage alten Frischling im Arm.

 Die obligatorische eindringliche Befragung, wo es denn herkäme und ob nicht doch eine Chance bestehen könnte, dem Frischling wieder in den Bereich des Einstandes des Muttertieres zu bringen, hatte nach kritischer Betrachtung kein positives Ergebnis. Sie hatten den Frischling längere Zeit suchend und schwankend beobachtet. Die 2 jungen Männer hatten den Frischling dann zu unseren Jungjäger gebracht und wie er es im Jagdrecht gelernt hatte, den zuständigen Jagdausübungsberechtigten informiert. Mit dem Hinweis, dass ich mehr Erfahrung im Aufziehen von Frischlingen habe, standen sie nun bei mir vor der Tür. In den letzten Jahrzehnten habe ich doch immerhin 6 Frischlinge bei nur einem Misserfolg erfolgreich aufgezogen. Es sind schematisch einige Abläufe vonnöten.

Zunächst ärgert man sich, dass man das, was man schon seit Wochen tun wollte, und zwar wenigstens mal einen Vorrat an Kälberstarter bzw. Lämmermilch als Trockenpulver zu besorgen, versäumt hat. Raiffeisen hatte natürlich um diese Zeit schon zu. Lediglich der Supermarkt im Ort, der neuerdings bis 22.00 Uhr geöffnet hat, müsste eigentlich noch Babynahrung haben.

Wenn auch das Päckchen Milumil-Erstlingsmilch mit über 10,– € nicht gerade billig war, brauchte der Frischling  zum Überleben unbedingt noch am gleichen Abend Nahrung.

Der im Bad zur Verhinderung von Fluchtversuchen  untergebrachte Frischling hatte sich wie einige Artgenossen zuvor im Wäscheberg vor der Waschmaschine verkrochen. Mit einigem Zwang und unter familiärer Hilfe gelang es, mit Hilfe eines Babyfläschchens die Babymilch dem Frischling einzuflößen. Nach ca. 2 Stunden mit einigen Unterbrechungen klappte das schon recht gut und Wuselchen – der Name kam spontan durch das Wühlen im Wäscheberg – kaute schon gierig auf dem Schnuller herum. Inzwischen hatten meine beiden Hunde (Flora, eine kleine Münsterländerhündin mit Erfahrung in der Aufzucht von Frischlingen, und Benno, ein zugelaufener Labradorrüde) distanzierten Kontakt mit dem neuen Mitbewohner aufgenommen. Bei einer, ich nenne es Prägungsphase, haben wir zunächst einen Teil der Nacht  mit Wuselchen im Wäscheberg verbracht (rechts Flora und links ich) und gemeinsam Vertrauen zueinander geschaffen.

Die nächsten Tage waren mit dem gegenseitigen Kennenlernen und dem Verarbeiten neuer Eindrücke von Wuselchen gekennzeichnet. Bereits nach 2 Tagen, das war eine enorme Arbeitserleichterung, hatte es Wuselchen  gelernt aus einem Schälchen selbst die Milch aufzunehmen. Nach der 1. Woche hatte Wuselchen bereits die gesamte Wohnung erkundet und – das ist bei kleinen Wildschweinen viel einfacher als bei kleinen Hunden – eine Stelle auserkoren, wo es sich regelmäßig löste. Zur Freude meiner Frau hatte es sich dazu die Badewanne ausgesucht. Dazu gehörte dann ein Schälchen mit etwas Wasser, in das es dann bevorzugt nässt. Da ich in dieser 1. Woche bereits die Vertrauensperson für Wuselchen war, oder sozusagen seine Leitbache, folgte es mir auf Schritt und Tritt. Als Kessel hatte es sich einen Wäschekorb ausgewählt, in dem sich  – wie ich feststellen musste – inzwischen nur noch meine geliebten zugegebenermaßen älteren Jagdsachen wiederfanden. In dieser Zeit hatte Wuselchen bereits gelernt mich am Gang zu erkennen. Ich hatte mir den Tag so eingeteilt, dass ich zur Frühstücks- und Mittagspause jeweils aus dem Büro nach Hause fuhr. Zunächst guckte nur das Köpfchen aus dem Kessel (Wäschekorb) heraus und auf den Ruf „Wutz, Wutz“ sprang es laut quiekend heraus und forderte sein Futter. Aus Kostengründen wurde nach 8 Tagen von Milumil auf Lämmermilch umgestellt, was es auch ohne Zögern sofort annahm. Der obligatorische Durchfall nach der Nahrungsumstellung dauerte nur 1 Tag. Neben der Milch bekam es Weidenröschen, Löwenzahnblätter und Topinambur. Was es auch recht gerne nahm waren Brombeerspitzen.  In der 2. Woche marschierte Wuselchen bereits auf Ausflüge in den Garten oder auf die Straße mit, wo es bei  allen neuen Geräuschen – und sei es nur das Zuschlagen des Briefkastendeckels oder dem Autohupen  – sofort Schutz zwischen meinen Beinen suchte.

Um den Aktionsradius zu vergrößern wurde Wuselchen in den hinteren Teil des VW-Kombi platziert und auf ein Wäschestück aus seinem Kessel gesetzt. Durch das Starten des Autos erschrak Wuselchen mächtig und landete mit einem kräftigen Sprung auf meinem Schoß vor dem Lenkrad. Die neuen Eindrücke beim Autofahren quittierte Wuselchen zunächst mal in dem mein Hosenbein erst warm und dann kalt wurde. Zum Glück hatte es vor der Autofahrt schon tüchtig genässt.

Die nächsten Ausfahrten zur Jagdhütte in den Wald verliefen bereits ohne Störung und ohne Angst. Wuselchen hatte sich an das Autofahren gewöhnt und ging willig wieder ins Auto  Es ist immer wieder überraschend, mit welcher Geschwindigkeit sich so ein kleiner Frischling um die Bäume herumbewegt. Die beiden Hunde hatten keine Chance, die blitzartigen Richtungswechsel oder Pirouetten nachzuvollziehen. Zielort waren immer wieder meine Beine. Wuselchen war natürlich sofort die Attraktion bei Groß und Klein.

Immer wieder erstaunt uns die Wissbegier und Lernfähigkeit eines so kleinen Schweinchens.

Erstaunlich die Kraft, die das kleine Tierchen beim Wühlen oder Beiseiteräumen eines Steins entwickelt. Beim Nachlegen von Topinambur auf unserem Wildacker (das erste Ausbringen hatten seine großen Artgenossen trotz Weidezaungerät vorzeitig geerntet) hat es tüchtig mitgeholfen. Das was ich per Hacke in den Boden gebracht habe, hat es postwendend untersucht und wieder nach oben befördert.

Zum Lieblingsplatz wurde sehr schnell der Fernsehsessel auserkoren. Beim obligatorischen Fernsehgucken gehörte es sehr schnell dazu, dass Wuselchen sich auf den Schoß legte und innerhalb von Sekunden einschlief. Noch lieber jedoch war ihm der Platz oben auf meiner Schulter als lebende Nackenrolle. Das gleiche habe ich in freier Wildbahn oft beobachtet, dass die Frischlinge sich gerne auf die Führungsbache legen. Vermutlich ist es da bei den enormen Gewichtsunterschieden sicherer und die Gefahr des Erdrücktwerdens ist geringer.

Obwohl kleine Wildschweine viel leichter zu erziehen sind und auch schneller stubenrein und sauberer sind als junge Hunde, haben wir schon mit Wehmut an den Tag gedacht, wo Wuselchen zu ihren Artgenossen ins Gehege muss (zu Susi, einer 15-jährigen Bache, und Putzi, knapp 4 Jahre). Mit Hand aufgezogene Wildschweine, naturgemäß nur die Bachen, sind ihr Leben lang sehr anhänglich und liebenswert. Meine älteste mit der Flasche aufgezogene Bache starb mit 17 Jahren am Herzinfarkt, und z. Z. ist Susi mit 15 Jahren noch sehr mobil und anhänglich, jedoch auch eifersüchtig auf jeden Fremden, der sich in meiner Nähe aufhält; mit Unruhe und Blasen macht sie dann auf sich aufmerksam.

Die Situation änderte sich leider schlagartig, als meinem Sohn, selbst auch Jäger, Verhaltensstörungen bei Wuselchen auffielen. Ich  selbst war an diesem Wochenende 2 Tage zur Arbeitsgemeinschaft Rotwild AG in Ockernrode bei Eisenach. Ich bemerkte, als ich nach Hause kam, dass Wuselchen im Gegensatz zu früher mich nicht mehr mit der gleichen Freude begrüßte  und es hat auch deutlich weniger gefressen. Mir selbst fielen sofort auch die Verhaltensstörungen auf. Sollte es etwa mit meiner 2-tägigen Abwesenheit zusammenhängen? Der Zustand verschlechterte sich dann in der Nacht von Montag auf Dienstag erheblich. Wuselchen lief ziellos im Wohnzimmer herum, ein Blickkontakt war nicht mehr möglich, da es permanent die Augen verdrehte. Am Dienstag  hatte es bei der Untersuchung bei unserer Tierärztin 41,7 °C Fieber. Es bekam neben einer Vitaminspritze eine Antibiotikum-Injektion. Trotz der Behandlung wurde der Zustand nicht besser. Nahrung konnten wir nur über die Babyflasche tröpfchenweise eingeben.

Neben den vielen Katzen und Hunden im Wartezimmer der Tierarztpraxis war Wuselchen natürlich gleich der Mittelpunkt. Auch unsere Tierärztin, eine couragierte Frau, sagte, indem sie Wuselchen über den Rücken streichelte „gell Wuselchen, wegen dir könnte man glatt zum Vegetarier werden“.

In den ersten Wochen als Familienmitglied bei Weides hat uns Wuselchen viel Freude bereitet. Doch dann zeigten sich Verhaltensstörungen und es bekam eine schwere Infektion mit  41,7 Grad Fieber.

Just in dieser Zeit nahm die Meldung in den Nachrichten breiten Raum ein, dass Milupa mit Keimen versetzte Babymilch aus dem Verkehr ziehen musste. Vor allem beim Wiederaufwärmen von nicht verbrauchter Milch bestand die Gefahr von Gesundheitsstörungen bis hin zu Hirnhautentzündung. Für Wuselchen hatten wir genau diese Charge Babymilch gekauft und die Milch immer wieder aufgewärmt. (Wäre dies die Ursache gewesen, hätten wir Wuselchen dankbar sein können, dass keine junge Mutter die Babynahrung gekauft hat). Des Weiteren  war im Internet zu lesen, dass bei jungen Schweinen die seltene Aujeszkysche Schweineseuche zu ähnlichen Symptomen führt und die darüber hinaus sehr ansteckend ist. Wuselchen bekam daraufhin ein weiteres Antibiotikum gespritzt. Am Donnerstag und Freitag verbesserte sich sein Zustand. Milch wurde bereits wieder aus dem Schälchen geschlabbert. Es verkroch sich jedoch in dunkle Ecken, was eigentlich ungewöhnlich war. Auch war es sehr ängstlich und lies sich kaum berühren.

Wie bereits im ersten Teil erwähnt, verschlechterte sich der Zustand am Samstag jedoch dramatisch. Das Fieberthermometer stieg auf 42,5 Grad. Wuselchen bekam regelrecht Fieberkrämpfe. Frau Prußnat, unsere Tierärztin, war ratlos. Eine Beruhigungsspritze wirkte zwar rasch, aber uns war klar, dass die nächsten Stunden für das Überleben entscheidend sein würden. Mit feuchten Handtüchern versuchten wir das Fieber zu senken und Linderung zu verschaffen. Am Samstagabend hatte das Leiden von Wuselchen ein Ende.

Aber nun gingen die Sorgen weiter:

Lag es an der aufgewärmten Babymilch oder war es gar die ansteckende Schweineseuche? Das Institut für Veterinär-Pathologie in Gießen, Prof. Dr. Reinacher, war nach unserer Anfrage sofort bereit, die Todesursache von Wuselchen zu ergründen.

Der bereits nach einer Woche eingegangene sehr umfangreiche Untersuchungsbefund überraschte doch sehr! Es gab zwar hinsichtlich einer ansteckenden Krankheit oder der kontaminierten Babymilch Entwarnung. Es zeigte mir aber auch, wie gefährlich die ersten Lebenstage eines kleinen Frischlings in freier Wildbahn sind. Im Nachhinein ist mir klar, warum Wuselchen sich von Anfang an nicht über den Kopf streicheln lies. Eine linsengroße sternförmige Fraktur auf der Schädeldecke hat durch eingedrungene Borstenhaare zu einem Hirnabszess geführt. Form und Größe der Verletzung sprechen für den Angriff eines Greifvogels oder einer Krähe (Kolkraben).

Die leider nur kurze Zeit mit dem Familienmitglied Wuselchen hat mir wieder bestätigt, wie lernfreudig und anhänglich Wildschweine sind. Sind Hirsche majestätisch, Rehe schön und dumm, so sind Wildschweine imponierend. Sie sind äußerst schlau und innerhalb ihres Familienverbundes sehr tapfer und überaus sozial eingestellt.

Euer  Bernd Weide

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